Abschlußrede Demonstration
»Statt Verwaltung selbst verwalten«
am 26.10.1996
 

Wir ändern das Rezept
Diese Demonstration entstand aus Anlaß unmittelbarer Bedrohung einiger selbstorganisierter Projekte hier in Kassel. Uns erscheint es wichtig, diese Ereignisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen.
Der Staat zieht sich zunehmend aus den Bereichen Bildung, Kultur, Soziales und Gesundheit zurück, die Regierung verhandelt über immer neue Sparmaßnahmen.

Vielen von euch ist das unter den Stichworten Rentenversicherung, Lohnfortzahlung, Arbeitslosenhilfe, Zuwanderungsstop, BaFöG oder vielleicht Mensaessen begegnet. Die Politik verschärft sich dabei nicht nur, sie geht auf völlig neuen Kurs. Im sozialen Bereich wird gekürzt, im privaten aufgestockt.

Der Bereich der Lohnarbeit wird ausgedünnt. Entlassung und Betriebsschließung heißen nun Verschlankung. Aus festen Arbeitsverhältnissen werden ungeschützte. ArbeitnehmerInnen sollen flexibel sein. Immer mehr Firmen stützen sich auf Arbeitende auf 590.-/Basis. Durch derart instabile Arbeitsverhältnisse wird „Heuern und Feuern" zum Regelfall.
Staatliche Leistungen sollen als unbezahlte Arbeit im Reproduktionsbereich verrichtet werden. Der Reproduktionsbereich soll der „Wiederherstellung der Arbeitskraft" dienen. Dazu gehören die Pflege alter Menschen und Kinder; die immer noch hauptsächlich von Frauen verrichtete Hausarbeit; Gesundheitsfürsorge; Bildung und Kultur; aber auch unbezahlte Arbeit in politischen Initiativen oder Vereinen.

Die Familie und vor allem die Reproduktionsarbeit von Frauen wird politisch aufgewertet. Um unbezahlte Arbeit noch attraktiver zu machen ruft die UN gar am 5. Dezember den „Tag des Ehrenamtes" aus. Gleichzeitig kommt es aber zu enormen Kürzungen im Bereich der Förderung von Selbsthilfegruppen.

Aber auch der Reproduktionsbereich ist der Privatwirtschaft einverleibt und arbeitet nach Gesetzen des Profits. Statt staatlicher Regelförderung gibt es nun Sponsoring, statt Umweltschutz Öko-Management, statt Volksküche Pizza-Taxi. Kindertagesstätten und die Pflege alter und kranker Menschen sind „verschlankt", sind Gewinn- und Verlustrechnung untergeordnet. Wenn Menschen ein nicht lohnendes Problem haben, bleiben sie damit allein.

Selbst die Sub- und Widerstandskultur wird aufgesogen und verwertet. Punk und Techno werden längst als Ware auf dem Markt gehandelt. Große Widerstandsbewegungen sind in Parteien, Organisationen und Verbänden aufgegangen.
Widerstand hat oft nicht mehr zum Ziel, die Gesellschaft zu verändern, sondern nur bereits Erkämpftes nicht zu verlieren.
Es wachsen Konkurrenz, Vereinzelung und Entfremdung. Die Ellbogengesellschaft wird zementiert.

Unbezahlte Selbsthilfearbeit wird nun vom Staat als ein Ausweg verkauft.

Selbsthilfe ist aber kein neues Phänomen. Sie entsteht nicht nur aus der Not heraus, sondern auch aus Lust an kreativer Veränderung. Schon in vergangenen Jahrhunderten gab es Zusammenschlüsse von Menschen, um ihre Interessen von Wohnen, Arbeit und Freizeit anders zu organisieren. In den 60er Jahren erfuhr der Begriff der Selbsthilfe eine Renaissance. Es kam zur sogenannten „soziokulturellen Revolution". Viele Kulturzentren, Kommunen, Lebens- und Arbeitsprojekte aber auch Wohngemeinschaften haben ihren Ursprung in den 60er und 70er Jahren.
Eine große Zahl dieser Projekte entstand durch Besetzungen. Oft wurde erst dadurch auf den Leerstand und den Bedarf an Freiraum aufmerksam gemacht.

Wenn sich Selbsthilfe innerhalb der „demokratischen Spielwiese", also innerhalb von Eigentum und Hierarchie bewegt, wird sie toleriert und sogar gewünscht. Schließlich hat die Gesellschaft schon oft von Experimenten der Selbsthilfebewegung profitiert.

Wenn sich aber Menschen nach SELBST gesetzten Maßstäben organisieren, wird ihnen dies massiv erschwert.
Für uns bedeuten diese SELBST gesetzten Maßstäbe, sich nicht am gängigen Eigentumsbegriff, an Konkurrenz und Kleinfamilie zu orientieren. Wohnen ist für uns keine Ware, die Häuser und Plätze gehören denen die dort wohnen.
Wir wollen, daß unsere Formen des Zusammenlebens und unsere Arbeit akzeptiert und gefördert werden, und dies ohne Bedingungen. Wir wollen, daß selbstorganisierte Gruppen nicht zur kollektiven Hausfrau des Staates gemacht werden. Wir wollen Freiräume auch außerhalb staatlicher Werte und Normen.

Wie viele von euch bereits erfahren haben, schlagen sich bundesweite Einschnitte im Sozialbereich auch in Kassel nieder. Dem Frauenhaus wird die Autonomie genommen, der Schlachthof muß um die Weiterarbeit kämpfen. Kulturprojekte sind zunehmend auf Förderung aus der Privatwirtschaft angewiesen. Platzverweise für Drogenabhängige ersetzen Ursachen- durch Symptombekämpfung. Bürgermeister Gehb nennt die, die nicht ins Bild passen, Gesocks.
Wie auch in vielen anderen Städten sind selbstorganisierte Wohn- und Arbeitsprojekte von Räumung bedroht oder bereits von der Bildfläche verschwunden. Projekte, die den gängigen Eigentumsbegriff in Frage stellen, sollen abgesägt werden.

Dabei ist die kasseler Besetzungs- und Projektgeschichte keineswegs neu. Bereits in den 20er Jahren siedelten Arbeitslose in Süsterfeld. Nach dem 2. Weltkrieg entstanden sogenannte „Wilde Siedlungen" wie der „Kleine Bruch" in Bettenhausen, deren Reste noch heute sichtbar sind. Auch Kleingärten stellten für viele Menschen eine Wohnalternative dar.
1971 besetzten BewohnerInnen von Notunterkünften 32 Häuser in der „Belgischen Siedlung".
Ende der 70er wurde das Frauenhaus besetzt, das in den folgenden Jahren legalisiert wurde und heute wieder bedroht ist.
In den 80ern gab es einige Besetzungen, um auf Wohnungsspekulation und Leerstand aufmerksam zu machen. Dazu gehörten die Breitscheidstraße 7 und das Kolben-Seeger-Gebäude in der Gottschalkstraße. 1989 wurde das Gebäude der Zündholzfabrik REFAG besetzt.
Bis zum Abriß 1993 nutzen mehrere Leute das Gelände der Fabrik in der Mombachstraße. Die Wohnräume dafür mußten erst hergerichtet werden.

Bereits 1982 entstand der Wagenplatz Hotz-N-Plotz, später kamen die Plätze K18 und Insel des Lächelns hinzu.
Obdachlose und Junkies besetzten Anfang der 90er Häuser in der Weidestraße und in der Frankfurter Straße.
Vor 2 Jahren wurde die Hegelsbergstraße 26 besetzt. Ebenfalls vor etwa 2 Jahren entwickelte sich das Projekt Messinghof.

Ein markantes Beispiel für den Interessengegensatz Profit und Selbstorganisation stellt der Reitstall dar. Eine Kulturinitiative interessierte sich 1973 für die Gebäude, nach zähem Ringen konnte sie später in den Schlachthof einziehen. Die folgenden Jahre stand der Reitstall leer. Ein Frankfurter Spekulant kaufte die denkmalgeschützten Gebäude, riß sie teilweise ab und baute: Mietskasernen.Vorher versprach er, die Gebäude einer sozialen Nutzung zuzuführen... Darauf wartet der vor sich hin bröckelnde Rest noch immer. Zufällig ist ein Teil dann auch abgebrannt...
Ähnliches befürchten wir für den Messinghof, den der kasseler Spekulant Matuszek kaufen will. Auch er verspricht soziale Zwecke, wenn die BewohnerInnen erstmal rausgeworfen sind: Einen Biergarten mit Bierpreisen für „sozial Schwache".
Natürlich ist diese Chronologie nicht vollständig. Viele der Projekte wurden durch Polizeigewalt geräumt, nur wenige bestehen fort.

Privateigentum, Konkurrenz und „Verschlankung" verdrängen andere Formen des Zusammenlebens und setzen die BewohnerInnen der Projekte unter Druck.

Dagegen wehren wir uns!

Wir verstehen unser Zusammenleben und -arbeiten als Experiment. Wir wollen nicht nur ein Stück vom Kuchen, wir wollen auch nicht den ganzen, wir wollen das Rezept ändern.
Die Stadt Kassel, die Gesamthochschule und das Land Hessen müssen UNSERE Form der Selbstorganisation akzeptieren und nicht nur innerhalb ihrer vorgesehenen reformistischen Spielwiese dulden.
Statt Verwaltung selbstverwalten!